Das bewegliche Ohr Carlo De Pirro
... Malerei verwandelt den Raum in Zeit, die Zeit in Raum.
Hugo von Hofmannsthal Buch der Freunde
Wir gehen von einer ästhetischen Konvention aus, der in den anderen Künsten nichts Vergleichbares gegenübersteht. Sowohl in einem kontrapunktischem Werk als auch bei der Durchsetzung des Orchesters mittels Überlagern bedeutender Schichten im Vorder- oder Hintergrund, nimmt der Zuhörer rational nicht all das wahr, was passiert, obwohl er sich über die Mehrdimensionalität seines auditiven Blickes bewußt ist. Unser Ohr reagiert wie das Objektiv einer sensiblen Fernsehkamera, das vor einem Gewirr von Objekten und Gefühlen die Brennpunkte aussucht, um mit deren Hilfe eine einfühlsame Schwingung zu erzeugen. Indem wir diese Bewegung im sonoren Raum vornehmen, nehmen wir zugleich in bewußter und unterschwelliger Weise etwas wahr. Und so erweckt die Polyphonie den Eindruck, als befände man sich vor einem mehrdimensionalen Raum, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit sowohl auf die Hauptfiguren, als auch in die Ferne richten können, die diesen Raum stützt. Die Polyphonie ist also die Eroberung – die Illusion – der Tiefe. In einem grundlegenden Kreuzungspunkt der westlichen Klangkultur (die sich zuerst in komplexen vertikalen Schichten – der Polyphonie – dann in komplexen horizontalen Beziehungen entwickelt hat – und so die Funktion der Zeitumformung entdeckt hat) begann diese Perspektive in Beziehung zur Melodie Harmonie anzunehmen. In gleicher Weise wie ein Adjektiv, (versuchen wir uns „schillernd“ oder „unruhig“ vorzustellen), ein Substantiv („Himmel“) modifiziert, verändern auch die harmonischen Mutationen, während eines melodischen Diagrammes, den Sinn mittels Spannungsvarianten. Das ist eine weitere Nuancierung der Grundidee im Hintergrund. Und zusätzlich ergibt sich daraus die Fähigkeit den Sinn der Melodie zu vervollständigen. Die Idee des Kontrapunkt gleicht der des Spiegelkabinetts. Man wirft ein melodisches Motto in das Zeitkaleidoskop und hört es in zahlreichen Überlagerungen wieder zurückhallen. Als man die homogenen Klangzeichen sammelte, begann man, Masse in fortwährender Umwandlung übereinanderzulagern und so entstand eine Polyphonie aus simultanen Koden. Eine Polyphonie die im Orchester ihren Triumph findet. Und hier tauchen nun neue rhetorische Figuren auf. Wenn die Gruppe der Holzinstrumente eine autonome Konsistenz innerhalb des Wiener-Klassik-Orchesters einnimmt, simuliert ihr Alternieren mit den vielen Streichinstrumenten einen plötzlichen, perspektivischen Bruch. So wie das plötzliche Auftauchen eines Solos aus dem Chor (berühmt ist das Beispiel der Oboe im Allegro con brio - Takt 268 – der V Symphonie von Beethoven) führt unser Ohr von einer kollektiven Wahrnehmung zu einer individuellen. Dieses mobile Ohr können wir im letzten Bild von Mussorgskijs Ausstellung wiederfinden, in Quadris Tor von Kiev. Der Zuhörer sieht eine Reihe präziser Szenenbildern an sich vorüberziehen: die triumphalen Feierlichkeiten zu Füßen des Portal, das Innere einer Kirche, das langsame Schlagen der Glocken. Erneut rhetorische Figuren. Ein Soloinstrument vor einem sanften Hintergrund mehrer Geigentremuli simuliert die Tiefe der Ferne. Beispiele für Überblendung – geringfügige Charakterveränderungen – ohne augenscheinliche Frakturen, findet man in vielen Instrumentalstücken (Beethoven: Trio op. 70 n.l. Allegro vivace con brio. Takt 6 – 7). Die Verwendung des Leitmotivs erschafft eine räumliche Verdoppelung zwischen der physischen Präsenz der Figuren und ihre Heraufbeschwörungen innerhalb des Orchesters. So wie die Erfindung der Stille – eine bewußte Verwendung dieser gab es nicht vor dem Barock – neue Räume in der Leere hervorruft, wo sich die Darstellung des Dramas oder der Pathos realisiert. Im Gegensatz dazu steht eine realistische Polyphonie aus Koden und das gleichzeitige Aneinanderreihen von Orchestergruppen. Einen berühmten Archetyp findet man im 1 Akt des Don Giovanni von Mozart. Während des Festes spielen drei Orchester auf der Bühne gleichzeitig verschiedene Tänze. Das Kunststück besteht darin, sie Schritt für Schritt ohne rhythmisch-harmonische Dissonanz ineinander übergehen zu lassen. Göttliches Beispiel eines kontrollierten Chaos, neubearbeitet in der urbanen Version von Charles Ives, Central park in the dark, und Prototyp eines Komponierens in aufeinanderfolgenden Tonschichten. Stockhausen behauptet, davon bis zu sechs Ebenen zusammenfügen zu können, wobei er natürlich nicht die fünf Tonmassen - zwei Orchester, zwei Chöre zu vier Stimmen gemeinsam mit einem Knabenchor - vergißt, die, unterschiedlich miteinander kombiniert, den Anfangschor der Matheus-Passion von Bach bilden. Von der mentalen Bühne zum Realismus bei der Aufteilung mehrerer Klangquellen. Von den antiphonalen Archaismen (vom griechischen antifonia, Wechsel der Stimmen, später zur Antifonie zwischen Chören und Instrumenten erweitert), zur Technik der Wechselchöre (Turbachöre), die ihren historischen Höhepunkt in der Markus-Basilika findet. Ritueller Charakter des Raumes als Klangmetapher des Universums. Diese Erfahrungen werden innerhalb des Orchesters auf eine ästhetische Umgebung übertragen, unter anderem von Berliotz, Bartok, Varèse, Stockhausen, Berio, Xenakis, Nono (ohne die Umsetzung in Raum als strukturelles Prinzip der spektralen Musik bei Gérard Grisey und Tristan Murail zu vergessen). In höfischer Umgebung, ähnlich wie im arkadischen Stil, entwickelt sich die Wiederholung in Form eines Echos mit varierter Dynamik; eine rethorische Figur, die typisch ist für das Barock, aber die man auch in späteren Stilepochen findet (im Notturno für vier Kammermusikgruppen K 236 überlässt Mozart der ersten Gruppe die Hauptmelodie, während die anderen immer kürzere Fragmente dieser Melodie wiederholen). Gleichzeitig simuliert man in der Oper mittels Orchester Fanfaren und Chöre, die außerhalb des Bühnengeschehens liegen. Auf diese Weise durchbricht man die Raumperspektive. Ein räumliches Problem, das sich im Zeitalter der ästhetischen Entrophie auch in das Problem der neuen Zuhörerperspektiven verwandelt hat. Erprobt wurde es dann in originellen architektonischen Projekten: Varèse (Ausstellungspavillon von Philips bei der Expo in Brüssel, 1958); Stockhausen (Ausstellungspavillon der DDR auf der Weltausstellung in Osaka 1990) und Nono (von Renzo Piano für den Prometheus konstruierte Arche, 1984). Soweit zur Geschichte der instrumentellen Prothesen. Seit die Bewegung der Töne, dank der Entwicklung der Verstärker und des synthetischen Klanges, nicht mehr an körperliche Präsenz gebunden ist, weitet der Raum seine Grenzen künstlich aus. Man denke nur daran, wie das Mikrophon zusätzlich zur Ästhetik die Expressivität zum Beispiel der sospiri und ppppp ausgebaut hat, und wie sehr Plattenaufnahmen im Vergleich zum Konzerterlebnis autonome Wahrnemungserfahrungen darstellen. Es scheinen sich erneut die Echos der Quadrivium der freien Künste zu verbreiten, das in der mittelalterlichen Kultur eine Verwandschaft zwischen Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie sah. Es ist daher logisch, dass die musikalische Spekulation in einer solchen Synthese die vertikale Ausweitung der Klangperspektive mit der Allegorie der Spären in Verbindung brachte. Aber gerade die Kluft, die sich in den letzten Jahren zwischen den Möglichkeiten der Technik und ihrer eher geringen Auswirkung auf die poetische Vorstellungskraft aufgetan hat, empfiehlt uns, die urprüngliche Einheit mit dem Trivium (Dreiheit) der freien Künste (Grammatik, Rethorik, Dialektik) nicht zu vergessen, dieses Produkt des Menschen, mittels dessen er eine Verbindung zu unseren instinktiven Affektivitäten wiederaufnimmt.
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