Horizon
Roberto Masiero
Eine neue Reise hat begonnen. Eine verschiedene Reise, nicht die selbe; nicht die des Christoph Columbus von Westen zu Westen, durch die er die Moderne, die durchaus europäische, in eine weltweite Vorrichtung verwandelt hat. Man weiß ja, wenn eine Reise beginnt, ändert sich alles. Das war damals gut spürbar, (ein Damals, das einige als ein "immer" oder ein "noch immer" verstehen). Bei dieser Reise stehen der Körper, das Gehirn, der Raum und die Zeit auf dem Spiel. Dabei geschehen Transmutationen, entstehen Hybridbildungen und Metamorphosen. Es geht um die Art, die Welt zu bewohnen, also um ihre und unsere Architektur; es geht um das eigene Selbst; jeder entdeckt auf dieser Reise etwas von sich selbst, manchmal entdeckt er sogar ein anderes Selbst. Das weiß die Literatur, besser noch der Roman, der seit seiner Entstehung (in der Moderne) eine ständige Reise in die Subjektivität und in das Denken ist (auch wenn er scheinbar, wie in den Science-fiction-Romanen, auf etwas völlig anderes trifft), und es geht um die Kunst, um Kunstgriffe, um List, um Tricks, um die Systeme, um die Strategien, um Kniffe und um Techniken. Versuchen wir zu verstehen, über welche Reise wir hier sprechen und versuchen wir die Zeichen der Veränderung zu begreifen. Die Reise führt von der Erde in den Himmel und von dort zur Unendlichkeit der Sterne und in Richtung der synapsischen und rhizomatischen Neuronenhaftigkeit unseres Verstandes bzw. Gehirns. Was ändert sich, wenn wir in diesen Raum vordringen? Es ändert sich, zum Beispiel, daß es keinen Horizont mehr gibt. Und das ist nicht wenig. Mit dem Horizont haben wir das Gefühl, das Über-uns und das Unter-uns zuordnen zu können, das Oben und Unten, den Himmel und die Erde. Wir erkennen das Gleichgewicht, wir fühlen "den Boden unter unseren Füßen". Wir schätzen sogar die Entfernungen ein, da der Horizont alles überspannt, was von einem bestimmten Punkt aus sichtbar ist. Dort wo die Erde nur einer von unendlich vielen Punkten ist, gibt es nur künstliche Horizonte, ablesbar durch seltsame Simulationsgeräte, Gyroskope, die keinen Mittelpunkt außer dem eigenen haben. Ist dieses simulierte Zentrum nun körperlich, optisch, physisch, mental oder virtuell? Es ist jedenfalls dynamisch, es bleibt nie stehen. Denken wir an das, was uns H. Lefevbre gelehrt hat: "... jeder lebende Körper ist ein Raum und besitzt einen Raum: Er entsteht im Raum und er lässt den Raum entstehen". Jeder lebende Körper interagiert mit dem Raum und erhält von ihm seine Determinationen, Symmetrien genauso wie Asymmetrien, Nähe und Entfernungen. Bei zweiseitig symmetrischen Lebewesen, wie bei den Menschen, werden die Indikatoren für den Raum, die Rechte und Linke, das Oben und das Unten, der Mittelpunkt und das Außen durch den Körper gekennzeichnet und leiten sich vom Körper ab. Der Körper dehnt die Eigenschaften und die räumlichen Determinationen, die er in sich trägt, auf den Raum aus. Auf diese Weise werden doppelte Determinationen in den Raum eingeführt; die Achse und der Quadrant, die Richtung, die Orientierung und die Wahrnehmung der Rechten und Linken projezieren sich auf die Gegenstände. Die Bedingungen und die Prinzipe der Lateralisation des Raums sind dem Körper eigen. Man muss sie verwirklichen, damit man die Rechte und die Linke, das Oben und das Unten zeigen und bezeichnen und so die Wahl ermöglichen kann. Wenn nun der Körper Produkt ist und Raum produziert, wenn er dadurch interagiert, dass er sich im Raum anpasst und verändert, was passiert dann dort mit dem Körper und mit seinen Interaktionen, wo es keinen Horizont mehr gibt, wo dieser eventuell immer und unvermeidlich simuliert wird, dort, wo man ihn sich höchstens (oder wenigstens) als unerforschbare Anziehungskraft der Horizonte vorstellen kann (wiederum im Virtuellen)? Stellen wir uns, bevor ich fortfahre, eine weitere Frage: Dieser Horizont, der immer in unserer Wahrnehmung existierte, genauso wie auf unserer Erde, war der nicht im Humanismus und mit der "Erfindung" der Perspektive zum Objekt analytischer, paradigmatischer, konstruktiver "Reflexionen" geworden ? Existierte er vorher vielleicht nicht, der Horizont, den wir zeichnen, wenn wir unsere "Perspektive" graphisch anordnen wollen, dieser Horizont, den wir in Form einer mit der Wasserwaage gezogenen, geraden Linie auf unserem Blatt sehen, dieser Horizont, der es uns ermöglicht, die Darstellung von Gegenständen im Raum zu positionieren und ihre Veränderungen in Bezug auf unsere eigenen Wahrnehmungsdynamiken geometrisch zu steuern? Gab es ihn vielleicht gar nicht, bevor wir ihn als Trick zur perspektivischen Darstellung von Gegenständen verwendeten? Sicher hat er immer existiert, auf der Erde gilt der Horizont als "gegeben", phänomenal, anthropologisch und logisch, aber erst mit dem Humanismus - als die Reise der Generation, die uns vorausgegangen und die uns gezeugt hat, begann - wurde er zum Paradigma, also zum reproduktiven Maß der Welt, zum analytischen Werkzeug und war nicht mehr nur Phänomen. Damals entstand eine andere Art, in der Welt zu sein und sie zu bewohnen, es entstand eben jene Art, die man üblicherweise Moderne nennt. Es entstand die Idee des Kunstcharakters selbst, wie wir ihn heute noch in unseren Schulbüchern, in unseren Museen und in unserer kollektiven Vorstellung dargestellt finden. Durch die damalige Reise hat sich die Welt verändert. Wird sie sich durch unsere "andere" Reise wieder verändern? Dort, wo sich der Horizont vermehrfacht hat, wo er virtuell und potentiell geworden ist, in eines der möglichen schwarzen Löcher kollabiert ist, was wird dort aus der Kunst und den Künsten? Was wird aus der Darstellung der Welt? Ist es vielleicht einmal mehr der Horizont, der aus der Welt eine Welt macht, für den Menschen, für seine Pläne genauso wie für sein Wahrnehmungssystem, für seine essentielle Interaktion mit dem Raum? Sind wir (überhaupt) noch im Zeitalter der Darstellung der Welt? Brauchen wir die Künste noch, um die Welt zu benennen oder um sie zu verleugnen? Um ihr "Architektur" zu geben? Um sie zu zerlegen und wieder zusammen zu setzen? Um sie nicht nur da-sein zu machen, sondern auch möglich und potentiell? Le Corbusier hatte seinen Arbeitsplatz so geplant, dass im Sitzen alles griffbereit war. Wie der Arm und die Hand "entwarf" der Körper (mit seinem berühmten "modulor") den Plan für den Raum und baute so seinen eigenen Raum. Das Innere mit seinen den Bewegungen und den Bedürfnissen des Körpers angepassten Oberflächen sah (und sieht) aus wie ein maßgeschneiderter Anzug. Es war das Ergebnis einer Planung (und einer Philosophie-Ideologie), die nicht erkennen konnte, dass der in Beziehung mit dem Raum lebende Körper Energie verbraucht (dissipiert) und dass diese Dissipation produktiv, generativ, erotisch, ästhetisch ist. Es war das Ergebnis eines Prinzips - jenes des besten Resultats bei kleinstem Aufwand - das biologisch unzureichend ist, um nicht zu sagen kastrierend, für das menschliche Geschlecht, die aus der Dissipation seine biologische wie ethnologische "Potenz" und "Überlegenheit" abgeleitet hat und die in dieser Verschwendung, während er mit dem erotischen Trieb kämpfte, zuerst das Heilige und dann das Schöne entdeckt hat. Ausschweifen (das Überflüssige spüren) hat so anthropologisch und begriffsmäßig gesehen einen primären Sinn. Auch in den Raumkapseln - unsere Nina, Pinta und Santa Maria - ist es so. Die Kapsel bietet alles nötige griffbereit, aber von ihrer Position aus kontrolliert sie, über ihre biologisch funktionalistische Hülle hinaus, andere, verschiedene und weit entfernte Sphären, nämlich die der Kommunikation, der Energetik, der Mechaniken, des Digitalen, welches das System innen und außen mit Nerven versorgt, die des eigenen Gehirns, das nun klar unterscheidend über das hinaussieht, was die Augen sehen, über jeden Horizont hinaus. Gemeinsam mit diesem Körper ist diese Kapsel ein energetisches Konzentrat, bereit überallhin auszuschweifen (zu dissipieren), erotisch und wunderschön, ein Kunstwerk. Eine Dissipation, genauso großartig wie zurückhaltend und kontrolliert in einen technisch-wissenschaftlichen, künstlichen und willensstarken Körper verwandelt. Ein Körper der Raumfahrt, der aus vielen Schichten, aus "Häuten", Zwischenräumen und Epithelen besteht, die das Biologische, das Mechanische und die Welt der Bits symbiotisch interagieren lassen. Dieser Körper wird nicht mehr bilateral symmetrisch sein; er wird kein Panzer sein, der sich dem menschlichen Körper anpasst, um ihn zu schützen und zu verteidigen. Es ist der Körper des Menschen, der sich schrittweise (vielleicht) an eine neue Beziehung zum Raum, zur Maschine und zur künstlichen Intelligenz wird anpassen müssen, um ein n-dimensional symmetrischer Körper zu werden, der dazu fähig ist, gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen, gleichgültig ob ihn seine Bewegung aufwärts oder abwärts führt, durch keine Schwindelanfälle behindert, in begrifflichem Sinne kugelförmig, so wie es tendenziell das menschliche Gehirn – in der Vorstellung des Menschen - ist. Was geschieht mit den Sinnen, mit den Sinneswahrnehmungen und in der Folge mit der Ästhetik? Der Tastsinn wird feststellen, dass er über die "Nähe" hinaus aktiviert werden kann, über die Körpermaße hinaus, und gleichzeitig wird er registrieren, dass er bis dorthin vordringen wird können, was er nie zu "spüren" versucht hatte. Der Geruchssinn, der "primitivste" der Sinne, wird nicht mehr dazu verwendet werden, das Revier zu markieren bzw. wiederzuerkennen, den Partner zu ermitteln oder zu erkennen, was der Geschmacksinn will oder nicht will. Er wird sich zurückbilden und wird sich (vielleicht) auf die Hygiene spezialisieren. Der Hörsinn wird die schwarze Zerstörung der absoluten Stille erleben. Der Geschmackssinn wird jede natürliche Erinnerung vergessen, um die Perversion und den Reiz des Künstlichen zu entdecken und der Sehsinn wird Tag für Tag, Generation für Generation, davon träumen, keine menschlichen Augen zur Unterstützung mehr zu haben, sondern die Augen der Insekten, die überallhin blicken können. Was bedeutet dann (und bedeutet jetzt schon) in dieser Tiefe der Sternenwelt eine Farbe? Was bedeutet das Schwarz und was das Weiß? Und das Licht? Dieses Licht, das die Dinge auf unserer Erde umgibt, mit all ihren "Merkmalen", mit all ihren Formen in den Vordergrund rückt, dieses Licht, das uns das Vergehen der Zeit wahrnehmen lässt, indem es sich einmal zeigt und einmal versteckt, durch den Wechsel von Nacht und Tag, dieses Licht, das das Innere und das Äußere unserer Bauten verschieden erscheinen lässt und das mit dem Herzeigen und Verstecken spielt; wird dieses Licht also noch etwas Heimeliges, etwas Gewohntes und Beruhigendes haben? Wie wird man mit der Wahrnehmung umgehen, dass man vor sich den Tag hat und gleich hinter sich die Nacht? Denn das kann im Weltall passieren: man könnte feststellen, dass zwischen dem Tag und der Nacht möglicherweise keine Zeit dazwischen liegt. Was wird es bedeuten, sich umzublicken, einen Blitz zu sehen und zu denken: da schau - so entsteht das Universum? Der menschliche Körper, der, seitdem die Kultur ihren Kampf gegen die Natur aufgenommen hat, nicht mehr nur natürliche und physiologische Gegebenheit ist, durchläuft die radikalste aller Verwandlung. Als Organismus will er das Anorganische vereinnahmen; als Lebewesen will er das Pflanzenreich und das Reich der Mineralien stürmen; als Begrenzter versucht er das Grenzenlose. Er will wandlungsfähig, vielseitig werden, indem er das bios (Leben) erzeugt und jeden Impuls beherrscht, der reine soziale Energetik geworden ist. Dieses Soziale, das inzwischen eine grosse Anhäufung von überflüssigen und überschüssigen Waren geworden ist (begehrt, da seinerseits begehrend) und deshalb ausschweifend und erotisch, in einer ästhetischen Ganzheit: Alles Kunst-Waren, da voller zusätzlicher Werte, entworfen, um das Subliminale (Unterschwellige) auftauchen zu lassen; nicht mehr handgemacht oder handgerecht, nicht durch oder für den Gebrauch gestaltet, sondern in erster Linie mentale Objekte, Idiographien. Der Körper kann seine Bedeutung ändern. Auch das haben wir auf der vorangegangenen Reise gelernt, als wir begriffen, dass wir sowohl Natur als auch Kultur sein können. Er verändert das erkenntnistheoretische Grundgesetz, im Geflecht der Wissenschaften (die Gesamtheit der Kenntnisse, der Raum, in dem sich diese verteilen, und die Beschaffenheit dieses Raums), der Wahrnehmung (das Auge, die Veränderungen des Blickes und die Beziehung zu den anderen Sinnesorganen), der Sprache (der verwendete Code und die Fähigkeit, das Wahrgenommene zu übersetzen) und der Ideologie (als Klebemasse für all diese Elemente und als Manifestierung der Machtbereiche). Der Mensch hat sein als Lebewesen mangelhaftes Dasein überlebt, indem er das Gehirn bzw. den Geist mehr als den Körper spezialisiert hat, die kognitive Intelligenz mehr als den Instinkt. Jetzt will er nicht nur das eigene kognitive System verbessern, sondern auch dessen materielle Basis, den Körper. Einerseits hat er die Intelligenz aus sich herausgenommen, aus dem Körper externiert, indem er sie in Form eines Computerchips materialisierte, mittels Silizium, dem weltweit am weitesten verbreiteten Rohstoff. Andererseits muss er den eigenen Körper verbessern, indem er ihn hybridisiert, transplantiert, indem er ihm Prothesen appliziert, gentechnisch manipuliert und über Schnittstellen mit dem Kybernetischen verbindet. So kann er das, was er externiert hat, die künstliche Intelligenz, mit dem, was zurückgeblieben war, die Körpermaterie, wieder vereinigen. Auf diese Weise findet er sich im Cyberspace wieder, im Posthuman, im Net, im Datennetz, das die Erde in ein riesiges synapsisches, rhizomatisches, impulsgesteuertes, unermüdliches, spasmodisches, halluzinierendes und nie träumendes Gehirn verwandelt. Die Reise damals, die in die Modernität, hatte den eigenen Planet zum Ziel, der, da orts- und zweckgebunden, noch kein kollektives Gehirn war. Es war eine imperialistische, wenn auch keine imperiale Reise, deren großer "Regisseur" das wissenschaftliche, okzidentale Denken war. Die neue Reise hat wiederum die Wissenschaft als "Regisseurin", aber jetzt ist sie ganz eins mit der Technik und scheint auf die infiniten Räume abzuzielen. In Wirklichkeit ist ihr Ziel der eigene Geist und die Natur dieses Etwas, das wir Intelligenz zu nennen pflegen. Der Geist wird so universell, ein Operationssystem, während der Mensch in virtuellen "Bereichen" agiert. Die Vorstellungskraft steigt krampfhaft an, ebenso wie die Fähigkeit der Datenverarbeitung. So werden die antiken und modernen Unterscheidungen zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen Mittel und Zweck, zwischen Wissenschaft und Technik völlig inaktuell. Was passiert auf dieser Reise mit der Kunst? Einige glauben, sie werde sterben oder sei schon tot (und vielleicht haben sie auch Recht). Wird in den Raumkapseln Platz sein, um ein Gemälde aufzuhängen? Die neue Welt (ohne Land) wird keine Bilderrahmen vertragen, sie wird es nicht ertragen, dass sich ihr etwas aus einer anderen Welt aufzwingt. Denn das macht ein Rahmen, wie man weiß: Er zeigt die mögliche Existenz einer Welt, die anders ist als die, in die er gehängt wird. Er umrahmt, zeigt einen Ausschnitt, einen Raum des Möglichen als etwas anderes als das Existierende. Aber die neue Welt lässt nichts anderes zu als ihre eigene Existenz, die naturgemäß unendlich und grenzenlos ist und "extrem" wie die Kunst. Sie wird für sich beanspruchen, selbst ein riesiges Kunstwerk zu sein. Sie wird es nicht zulassen, dass sich aus den Kunsttechniken (Malerei, Bildhauerei, Architektur, wie auch immer) eine Überlegenheit ergibt, weil man von ihnen vermutet, sie besäßen die Fähigkeit, die Welt darzustellen, zu reproduzieren oder zu interpretieren, oder weil man ihnen eine mögliche Erhabenheit zuschreibt. Die neue Welt ist reine Technik, die keinen Ersatz duldet, am wenigstens einen ästhetischen. Andererseits stellt sich die Frage, ob es dort, wo es keinen als Paradigma zur Bemessung der Welt gedachten Horizont gibt, auch Bilderrahmen geben kann? Vielleicht sollte man denen, die idealistisch und nostalgisch den Tod der Kunst predigen, letztendlich Glauben schenken. Ich finde das nicht! Im Gegenteil, ich bin entgegengesetztler Meinung. Man wird feststellen, dass die Kunst keinen vorrangigen Raum mehr hat, kein Museum mit seinen Ritualen mehr, sondern dass sie ein weit verbreitetes, impulsgesteuertes, vitales Phänomen sein wird. Man wird feststellen, dass sie kein Mittel zur Interpretation der Welt sein wird, sondern zur Produktion-Konstruktion der Welt. Man wird feststellen, dass der Blick des Künstlers nicht anders sein wird als der Blick eines jeden von uns. Er hat nur den Mut seinen Blick in "Welt" umzusetzen. Andererseits sorgt das riesige kollektive Gehirn Internet dafür, dass die Welt keine Grenzen und keine versteckten Gedanken mehr hat und dass es deshalb nicht mehr die Aufgabe des Künstlers ist, Welten zu erforschen. Aber es erlaubt dem Künstler und jedem von uns, in andere Welten hinein zu sehen, zu fühlen, zu hören, zu greifen, es ermöglicht uns die Freiheit vieler Leben und nicht eines einzigen Lebens; es gibt uns ein großes Privileg, nämlich jenes, alle Dinge der Welt mit neuen Namen zu benennen, also die Welt neu zu kreieren. Dort wo alles aus Information besteht, im "Poliversum der Bits", ist alles zur selben Zeit gleich und verschieden, auch die Kunst. Die Kunst, die in der Antike Darstellung der Welt war, dann in der Moderne Mittel zur Konstruktion des eigenen Selbst und das des anderen und zur Begründung einer selbstdarstellenden Subjektivität wird, und in der zeitgenössischen Kunst versucht hat, ein Moment der Freiheit und der Erschaffung der "anderen" Welt zu sein, mit zwei großen Tendenzen, einer spiritualistischen und einer emanzipatorischen, sie wird mit dieser Reise versuchen (vielleicht), sich definitiv als "entscheidend" anzuerkennen, nicht für die Darstellung der Welt und genausowenig für ihre Existenz (die Welt kann sehr gut auch ohne Kunst leben), sondern für den Menschen (der nicht ohne die Welt leben kann). Der Mensch kann nicht auf die Kunst verzichten, denn sie ist eine "Brücke" zwischen Gedanken und Dingen, zwischen Existierendem und Möglichem, zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, im Sinne Heideggers, zwischen dem Da-sein und dem Sein. Und sie ist immer und überall eine Frage des Geistes, genauso wie es das Mögliche ist. Aber die entscheidende Frage ist vielleicht folgende: "Was geschieht mit der Natur?" Die Natur war am Anfang Mutter und Stiefmutter. Alles konnte sich in ihr wiedererkennen, verkroch sich in ihr, versteckte sich in ihr. Auch und vor allem der Mensch, obwohl er sich gleichzeitig als Behüter der Natur sah. Die Gesetze "beruhten" alle auf der Natur. Das notwendige Denken war damals ein metaphysisches Denken, das Gesetze suchte und versuchte, sich ihnen zu unterwerfen, sich aber gleichzeitig die höhere Aufgabe stellte, diese auch zu hüten. Dann dachte der Mensch nach und machte aus der Natur ein Speicherbecken an Rohstoffen, eine Art Bergwerk, eine unerschöpfliche Quelle, die es auszunutzen galt. Auch das, was sie als "zusammengesetzt" anbietet, wurde "getrennt", indem Verbindungen aufgebrochen, aufgespaltet wurden, die die Natur als Siegel "ihrer" Macht gedacht hatte; Verbindungen, welche die Antike sinoli nannte und die die Aufgabe hatten, die schwierige Vereinigung der Materien mit den Formen zu rechtfertigen. Oder die noch schwierigere Vereinigung zwischen Materien und Substanzen, wie es in der Moderne geschah. Wo Verbindungen, metaphysische Rechtfertigungen, zu wanken beginnen, erscheint die Natur nicht als Freund oder Feind, sondern wie etwas, das "zur Verfügung" steht. Man hat die Natur in den Käfig gesperrt. Der Mensch hat die eigene moderne Subjektivität gegründet, um dieses "Verfügbare" zu "regieren". Oder vielleicht hat gerade dieses Auftauchen aus dem engmaschigen Netz der modernen Erkenntnistheorie einer Natur als "Speicherbecken" die Idee einer Subjektivität entstehen lassen, die dazu fähig ist, Werte zu gründen (über die natürlichen und göttlichen hinaus), Ökonomien miteinander zu verflechten, Wissenschaften als Universalien durchzusetzen, die Produkte der Notwendigkeit und des Vergnügens in "Kunstwerke" zu verwandeln, also in etwas, das mehr ist als nur ein Produkt. Auf unserer Reise ist die Natur nicht mehr das Bezugsparadigma. Sie bleibt weiterhin "Bergwerk", ein existierender Ort, aber kein Ort der Gesetze. Diese Gesetze findet das Subjekt nun im Denken selbst, in der Sprache, in den linguistischen - noch vor den computerisierten- Logiken, in der Welt der Bits. Die Natur selbst ist "Information" geworden. Das bedeutet nicht, dass die Natur nicht mehr existiert, es bedeutet ganz einfach, dass sie vorher verkünstlicht wurde (durch die industrielle Produktion) und jetzt wird sie in Botschaft und Signal umgewandelt, analog zu allen anderen Botschaften und Signalen. Sogar die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur hat heute völlig ihre Bedeutung verloren. Das bedeutet der Untergang aller Metaphysik en, das bedeutet, die Gesetze nicht mehr irgendwo im Göttlichen oder Natürlichen zu finden, weder im Nahen noch im Fernen, nur in der Intelligenz selbst und in ihrer diffusiven Kapazität. Es bedeutet, dass die verschiedenen Formen der Intelligenz sich nicht mehr verpflichtet fühlen, weder der Idealität (Idealismen, die uns voraus gegangen sind) noch der architektonischen Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis oder zwischen Gedanke und Aktion, und (stattdessen) in der erkenntnistheoretischen Digitale operieren, d.h. in einer Mischung aus Gedanken und Praxis, die gleichzeitig universell und einzigartig ist, abstrakt und konkret, fähig zur Manipulation und fähig, die Logiken der Identität und der Differenz interaktiv werden zu lassen, also nicht nur fähig, zu unterscheiden, sondern auch das Phänomen der Oberherrschaft des Gedankens zu unterstellen ( ihrer kybernetiké tékhne), Erzeuger von Differenz und Veränderung, gleichzeitig generativ und autoreferentiell. In diesem "Jenseits der Natur" und in dieser immer als Potential ausgedrückten Materie liegt die Krise der Metaphysik und die Überwindung (hoffentlich auf spielerische Art) jeder Form von Humanismus, d.h. die Überwindung jeder Kenntnis, die auf dem Prinzip basiert, dass der Mensch Maß aller Dinge sei. Er ist nur Materie zwischen anderen Materien, Form unter anderen Formen, generatives System zwischen anderen generativen Systemen, bestenfalls kann er stolz sein, eine Konzentrationsfläche "grauer Zellen" zu sein, die jedoch für eine Intelligenz bestimmt ist, die man einmal kollektiv nannte und die man heute als "Nootechnik", als "Geistestechnik" definieren kann. Wie wohnt man jenseits der Metaphysik und auf dieser "astronautischen" Reise? Wie wohnt es sich ohne Metaphysik? Sicherlich, indem man sich verantwortlicher zeigt gegenüber dem, was von der Natur bleibt, von ihrer ungeheuren verbliebenen Gesamtheit, aber auch von den Transmutationen der Subjektivität selbst, von ihrer Politizität, ebenso wie von ihrer Körperlichkeit. Was passiert mit dem, was wir Architektur nennen? Vor allem "kollabiert" in ihr der Primat des Trilithischen. Das Horizontale und das Vertikale (Architrav-Decke und Säule-Mauer) haben keinen paradigmatischen Wert, wenn der ordnende Wert des Horizonts verloren gegangen ist, und wenn man (metaphysisch gesehen) nicht mehr glaubt, dass die "Stabilität" im Gleichgewicht und in den Symmetrien zu suchen ist. Nur aus einer metaphysisch aristotelischen Sicht konnte man denken, in der Welt zu bauen bedeute, eine bearbeitete Materie (zum Beispiel den Marmorblock für die Säule) von einem Zustand des Gleichgewichts zu einem anderen Gleichgewichtszustand zu transportieren, von einer Ordnung zur anderen, im zweiten Fall künstlich, analog zum ersten, dem natürlichen. Im Weltall schwebt alles im Leeren und jeder kleine konstruktive Teil ist eine Mikrowelt in sich, die man nur an andere Mikrowelten binden kann, wenn man Fugen, Spannungen, Verklammerungen, Verstrebungen und Oberflächen, die, da sie ständig unter Spannung stehen, nicht anders als "gekrümmt" und auf ihre Art "fließend" sein können, in ein Verhältnis zueinander bringt. Die Struktur tendiert dazu, sich zu verkörperlichen. Sie weigert sich "endoskelettisch" zu sein, also der Analogie zum Menschen oder zu den Wirbeltieren allgemein verpflichtet zu sein. Sie weigert sich "im Dienst" zu stehen, sich "uni-formieren" zu müssen. Sie versucht sich als "Exoskelett", so als träume sie davon, der Welt der Mineralien anzugehören. Vielleicht versucht sie sich auf ihre urprünglichen "Monumente" rückzubesinnen. Es ist der Mensch, der die Architektur braucht, nicht die Architektur den Menschen. Vielleicht sucht sie ein eigenes Leben, eine eigene Begrifflichkeit, in einer völligen Kontrolle der Materie. In ihrer Geschichte war zuerst die Kontrolle des "Starren", dann die des "Elastischen" (das was unter Spannung steht), jetzt will sie das "Fließende" beherrschen, sie will eine eigene Vitalität spüren, indem sie versucht, sich selbst zu erzeugen. Der Mensch wird in diesem "fließenden" Zustand, der sich starr anfühlt, und in dieser "Starrheit", die sich fließend zeigt, gezwungen sein, sich der eigentlich mineralischen Vitalität der Architektur anzupassen, indem er irgendwie amöbisch (amöboid) wird, ein Bewohner des Fließenden, genauso wie des Digitalen und des Virtuellen, ein cyborg. Das wird seinen humanistischen Stolz zunichte machen. Die Form dieser Architektur wird die Regeln in sich selbst suchen, nicht in der Natur oder in der Kultur, auch nicht in der erstaunlichen Varietät der Natur - im Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich - auch nicht im großen Speicherbecken der Figuren, wie es die Geschichte ist. Sie wird versuchen logomorph, autoformativ, konkretionell zu sein, indifferent, nicht bezogen auf die Funktion, sondern auf die Erwartung, die das rationalistischen, idealistischen und positivistischen Denken ihr zugesteht: die Erwartung, dass diese Architektur die Welt in all ihren Ökonomien bedeuten kann. Sie wird versuchen Schnittstelle zu sein, zwischen Materien, Formen, Funktionen, Umwelt, Bedeutungen und Ideographien, den sofort zu Zeichen gewordenen Ideen. Sich selbst überlassen wir die Funktion zur Restvernunft im Poliversum der Bit, des Digitalen, der Kommunikation, die dem Hedonismus der energetisch-semiologischen Dissipation zusteuert. Mögliches Betrachtungsobjekt für die Architektur wird nicht mehr das Ursprüngliche (die primitive Hütte) sein, das Klassische mit seinen Regeln (immer wiederkehrend) oder der Refrain des Rationalismus und des Funktionalismus, die für die zeitgenössische Welt typisch sind - die Form unterliegt der Funktion oder weniger ist mehr -, sondern das Biomorphe. Nicht das Antropomorphe. Ein Biomorphismus, der aus generativen bruchzahlartigen Prozeduren mit einem hohen Anteil an performativer Indetermination entsteht. Es ist der "Zufall", der zum System wird, ohne die Potentialität zu verlieren. Es ist die Technik, die den nicht berechenbaren Raum in Besitz nehmen will, der ihr von der Mechanik verweigert wurde und der sich heute als ein Territorium erweist, das sich mit digitaler Hilfe erobern lässt. Es ist die Technik, die den nicht vorhersehbaren Raum erobern will. Innerhalb dieser Dynamiken verschwindet in der Architektur der Gegensatz zwischen Struktur und Detail. Nichts kann in den generativen Logiken bestehen, wenn es nicht Teil des Ganzen ist. Diese Architekturformen tendieren, wie schon gesagt, in Richtung des Biomorphen, also Richtung Organisches, ohne dabei jedoch eine Metaphysik oder eine Ideologie der Natur zu haben, wie bei den Organizismen des 20.Jahrhunderts. Dieses Organische ist transnaturell, generativ, diffusiv und ungetarnt Das bedeutet die Verweigerung des Details, aber auch der Dekoration und das nicht nur aus ethnischen oder ästhetischen Gründen, sondern aus logischen. Die Natur und die Kultur zusammen, lassen eine infinite Welt der Unterschiede entstehen. In der Zeit der Metaphysik konnte der Mensch nicht anders als die Natur imitieren, um ihre Regeln zu erforschen. In einer Zeit jenseits der Metaphysik, in einer posthumanistischen Zeit, kann er die Natur nicht mehr nachahmen und produziert daher in völliger Autonomie Bedürfnisse und Dinge mit seiner ganzen ihm zur Verfügung stehenden Intelligenz, die nun auch künstlich ist, auf der Suche nach einer dritten (die zweite Natur ist die von der Moderne und von der Art der industriellen Produktion erforschte und erzeugte), vierten oder fünften Natur; vielleicht auf der Suche nach einer anderen Natur. Die Formen sind so im Raum frei, folgen der Technologie des Bauens und werden von dieser verfolgt und nehmen immer weniger Einfluss auf die Planungsentscheidungen, sie sind von Fall zu Fall immer öfter dienender Natur. Das Unmögliche ist ein dieser Logik unbekanntes (besser gesagt nicht essentielles) Adjektiv. Das Ergebnis hat etwas Paradoxes: Die Befreiung von der Imitation erlaubt das Erzeugen völlig fließender, leichter und natürlicher (sic!) Formen, so als ob die neue Reise ein Schicksal hätte, eine letzte noch zu beginnende Reise, die uns (vielleicht) in einen weichen Schoß des "Alles" zurückführt, das vor jedem Anfang liegt, vor jeder Vernunft, vor jedem Monument, wo der Mensch endlich entdecken kann, dass er in der Lage ist, die eigenen Formen herstellen zu können, die eigene Welt und den eigenen Raum, so wie ein Pferd sich plötzlich mit einem edlen Gang oder mit schmalen Fesseln wiederfindet oder der Pfau mit seinem bunten Federnrad. So als habe seine ganze Technik, die sich inzwischen in ein planetarisches Gehirn verwandelt hat, es sich zur Aufgabe gemacht, denjenigen, den Menschen, in die Natur zurückzuführen, der den Mut und Dreistigkeit hatte, diese hinter Gitter zu sprerren, sie für eigene Zwecke zu verwenden, und letzendlich sie in eine völlig abstrakte, immaterielle, unnatürliche Entität, in ein Bit, zu verwandeln. Diese ungeheure Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach dem Vitalen, dem Unbewußten der Kreativität, ist das, was den Augen eines jeden Kunstwerks zugrunde liegt, aber es ist auch das, was Künste und Architekturformen zusammenhält. |