Interview mit Andrea Pezzi

 

Enrico Lain

 

 

D.: Sprechen wir nun also über die Anfangszeiten von MTV, über das berühmte Jahr 1981, in welchem die Buggles dem Publikum die berühmt-berüchtigten „Video kills ..." geboten haben und Mark Loughan seinen Iden auf die TV-Heads brachte. Ist es möglich, daß MTV sich immer schon seiner Macht bewußt war, oder gab es einen Moment in dem MTV nur ein Video-Clip-„Container" war?

R.: Ich denke, daß sich MTV als Unternehmen seiner Macht noch nicht bewußt ist. Vor allem die Idens repräsentieren ja die Stärke von MTV. Sie sind in gewisser Weise die unbewußte Arbeit seitens des MTV-Organismus. So wie der Mensch sein eigenes Unterbewußtsein in den Träumen äußert, so zeigt MTV sein Unterbewußtsein in den Idens, künstlerische Produkte, die die MTV-Arbeiten kommentieren.

D.: Du vergleichst MTV also mit einem Organismus?

R.: Ja, unbedingt. Denn so wie ein Organismus, besitzt auch MTV eine Traumarbeit. Diese Traumarbeit stellt die unkontrollierbare Kapazität MTV‘s dar, sich wie eine Art weißes Tuch zu präsentieren, auf das die Künstler, die kreativsten Personen, ihre ganze Größe projizieren. Der Künstler findet in MTV also eine Art Container vor, in den er all die Kreativität die er besitzt, hineinerbrechen kann. Und so entstehen die Idens, die wirklich einen Traumstoff darstellen. MTV ist sich dieser Kraft jedoch nicht bewußt. Zumindest nicht auf der Entscheidungsebene.

D.: Ich möchte etwas mehr von dir über die bewußte Arbeit von MTV erfahren, als Organismus, der in einem sozialen und semiotischen Raum tätig ist.

R.: MTV ist ein vielfältiges Subjekt. Ein „Uno Nessuno Centomila" (Einer Niemand Hunderttausend), wie Pirandello die Menschen bezeichnete. Und nur aufgrund dieses Motives ist MTV außerordentlich modern. Es ist schizophren, fördert aber die Schizophrenie nicht. Ein Film von Kubrik fördert Schizophrenie in den Leuten, MTV hingegen tut das nicht, es bestätigt bestenfalls die Schizophrenie, die schon da ist. Allenfalls entfremdet MTV. MTV ist in der Tat eine Art Raummaschine, d.h. es ist nicht terrestrisch, sondern wie ein entferntes Raumschiff, das im Weltraum herumschwirrt. MTV ist ein Kind der Chips und optischen Fasern. Es hat darüber hinaus die Fähigkeit vollkommen oberflächlich und entfernt zu sein, und gar nichts auszudrücken. Das Bild von MTV erscheint so flüchtig, daß es paradoxerweise eine absolute Bedeutung einnimmt. Und deshalb ist es der Mensch, der aufhört menschlich zu sein, sogar bis zu dem Punkt ein Anderer zu werden, eben entfremdet. Ich habe MTV immer so gesehen.

D.: MTV ist also postmodern, und zwar in dem Sinne daß wir schizophren sind, weil wir postmodern sind. Aber kann MTV diese postmoderne Dimension überwinden?

R.: Meiner Meinung nach liegt das Problem nicht hier. MTV repräsentiert heute nur den Moment in welchem der Mensch sich entfremdet, indem es seine Entfremdung bis zum Maximum treibt. MTV ist wie alle anderen Dinge entsetzlich nützlich und unnützlich zugleich. Das, was wirklich zählt, ist, daß MTV bei einer emporkommenden Gesellschaft Erfolg hatte, die nun MTV selbst gestaltet hat. MTV ist wie ein Drudenfuß, es ist teuflisch und entfremdet. MTV ist mit dem Tod verbunden, mit dem Tod des Fernsehens. MTV tötet das Fernsehen. Und das ist das Gute.

D.: MTV charakterisiert sich auch dadurch, sich selbst zu überleben, indem es sich kontinuierlich selbst verschlingt. Der Autokannibalsimus betrifft nicht nur die VJ, die bei MTV arbeiten, sondern auch und vor allem MTV selbst.

R.: Einverstanden. Davon gibt es ja auch ein Iden. Aber, ich sage nicht, daß MTV stirbt, sondern nur, daß es das Fernsehen tötet. MTV schlägt Modelle vor, die alles andere unanständig machen. Wenn wir von Raum sprechen, ist MTV der Punkt auf einer Geraden, für den es ein MTV vorher und ein MTV nachher gibt. Das gilt nur in Italien und in Europa, Länder in denen MTV in jenem Moment als Nicht-Raum gilt, in dem es sich als Trennwand darbietet und diese zwei Räume trennt. In diesem Sich-Selbst-Multiplizieren ist es ein Autophagozyt, autoreferentiell. In jenem Iden von dem ich gesprochen habe, sieht man einen Mund, der von etwas verschluckt zu werden scheint, das drinnen liegt; das ist MTV das sich selbst von innen auffrisst.

D.: 1964 sagte Mc. Luhan etwas, das perfekt zu MTV passte, als er behauptete, daß es im Fernsehen wichtiger ist, einen unvollendeten Prozess darzustellen, als dem Publikum ein vollkommen abgeschlossenes Programm darzubieten. Denkst du, daß das VJ irgendwie Übersetzer eines unvollständigen linguistischen Prozesses ist?

R.: Ich persönlich halte sehr viel von Individualität, wofür das Konzept des VJ überhaupt keinen Wert übrig hat. Das Individuum, das in MTV arbeitet, zählt viel mehr, sei es nun ein VJ oder ein Graphiker. Es gibt Graphiker, die MTV zitieren und Graphiker, die jedesmal, wenn sie eine Arbeit zu Ende bringen, MTV machen. Und das gilt auch für die VJ. Das was MTV zu dem gemacht hat, was es ist, waren die Ideen darüber, wie MTV sein sollte. Ich persönlich glaube immer dort gearbeitet zu haben, wo MTV nicht war.

Ich halte MTV für einen Organismus, ein quecksilbriges Wesen, formbar aus elektromagnetischen Feldern. Und da gibt es dann jene, die ein Teil dieses schillernden Gewebes sind, und andere hingegen, die die Formen angeben. Von diesem Geschichtspunkt her finde ich MTV stimulierend, und es ist auch der einzige Grund, warum ich dort noch arbeite. Mich interessiert die Liquidität, und hier spreche ich nicht von jener ökonomischen, die bei MTV wenig vorkommt! Der VJ ist Nichts und Alles. Ich glaube auch, daß die linguistische Unvollkommenheit ein Faktum ist, das aus dem Bedürfnis nach Mobilität, Liquidität, aber auch aus der organischen Intelligenz entsteht, was bewirkt, daß MTV in jeder Hinsicht lebendig ist. Und trotzdem, wenn du diese Mobilität erhalten willst, mußt du Erfahrung und Geld bei Seite schieben. Anders als das Fernsehen, kann es sich MTV nicht erlauben, die Kosten dieser Flüssigkeit zu tragen. Das Fernsehen generell ist tatsächlich ein Festes, entgegen der flüssigen Form von MTV, fest auch, was den wirtschaftlichen Standpunkt betrifft! Aber die Unabgeschlossenheit hängt auch von MTV‘s Publikum ab, das sich nicht mit Stereotypen zufriedengibt, da es ein sehr ausgeprägtes Publikum ist, das auch aus kreativen Leuten zusammengesetzt ist.

D.: In welcher Weise erklären sich die Beziehungen zwischen Zensur und Ausschluss einerseits, und Transformation und Überschreiten andererseits, wenn man MTV mit dem Fernsehen vergleicht?

R.: In MTV gibt es eine Zensur. Es fehlen alle Dinge, die man entsprechend der amerikanischen und im allgemeinen auch in der angelsächsischen Kultur nicht zeigen dürfte. Mit den Jugendlichen dürfte man nicht in gewisser Weise über Alkohol oder Drogen sprechen. Auf jeden Fall verändern sich diese Schemata dann von Land zu Land. Philosophisch gesehen, kann man MTV nicht überschreiten. Wenn wir das Transgressionskonzept in MTV theoretisieren wollen, so ist das nicht möglich, weil MTV Transgression in sich darstellt; es ist ein Transgender-Programm, weil man es mit einem Transsexuellen vergleichen kann, der zwei Geschlechter zusammenwirft, und dadurch eine hormonelle Unausgewogenheit schafft.

D.: Wenn die Transgression von MTV in dem Umfang aufgenommen wurde, um daraus sogar sein Steckenpferd zu machen, dann ist MTV defintiv ein Mittel der sozialen Kontrolle ...

R.: Ich denke, daß im allgemeinen die Machtverhältnisse geändert worden sind. Ich finde, daß heute auch ein Rockstar Politik machen kann, so wie ich denke, daß John Lennon einer der größten Politiker der Geschichte ist. MTV ist es gelungen, diese Hürde zu überwinden, weshalb es genauso wie das Phänomen Fernsehen im allgemeinen politisch ist. Auf jeden Fall schließt sich das Jahrhundert mit dem von MTV ausgelösten Sterben des Fernsehens, da MTV wie ein Mutationsvirus agiert, das es sogar soweit bringt, das Fernsehen in etwas ganz anderes zu verwandeln. Vom festen in den flüssigen Zustand. MTV repräsentiert diese Art morphing.

D.: Glaubst du, berücksichtigt MTV überhaupt das Publikum?

R.: Sicher. Aber es stellt das Publikum nicht ganz zufrieden, nämlich genau deshalb nicht, weil es nicht objektiv ist, es stützt sich nicht auf den Situationismus oder auf Marktuntersuchungen. Es gibt dem Publikum nicht Busen, Preise und Geld, oder die richtige Antwort. MTV verkauft keine Objekte, sondern Tiere, weil es subjektiv ist und einen Organismus hat. Es stimmt nicht, daß MTV sich keine Gedanken über sein Publikum macht, MTV ist das Publikum selbst. MTV spricht mit den jungen Leuten, weil es von den jungen Leuten gemacht wird. Also einerseits der Frust und die Unzufriedenheit, andererseits aber auch die Energie MTV zu machen. MTV ist kein Fernsehen, weil es keine Stereotypen, keine Schule gibt. Wir sind nur Kinder des Fernsehens, aber wir hatten keine Lehrer. MTV darf nicht gedacht werden, sondern du mußt MTV sein. Das ist jedoch ein gefährlicher Mechanismus.

D.: MTV bemüht sich, ein neues Immage von sich zu geben. Weltall, Außerirdische, Weltraumschiffe gehören dazu. Glaubst du, ist MTV die letzte uns verbleibende kosmische Darstellung?

R.: Tja, zweifelsohne stecken all diese Dinge in uns. MTV als Monster, ist Kind von all dem, was wir werden. Darin ist MTV eine klare Projektion von uns selbst. Es gelingt ihm von Mal zu Mal die Formen unserer inneren Monster anzunehmen, speziell was das Gebiet der Traumarbeit betrifft, von der ich dir anfangs erzählt habe. MTV in sich ist rein gar nichts, hat keinen Wert, ist unbedeutend, es ist ein leerer Raum, der ständig gefüllt werden muß.